LINEATUREN | BERNHARD LYPP

 

“Black Line”
Veronika Wenger 2020
100 x 70 cm, marker on paper

Das weiße Blatt und die leere Leinwand sind materielle Gegenstände, die den Dingen und Ereignissen zugehören, aus denen das Insgesamt der Welt besteht. Fassen wir sie jedoch als Gerüste einer Bühne auf, dann haben wir sie aus dem Sammelsurium der Welt aussortiert und nehmen sie als einen Rahmen wahr, mittels dessen das Sein der bloßen Vorhandenheit in Anführungszeichen gesetzt ist. Wir haben eine imaginäre Grenzlinie gezogen, die zwischen dem weißen Blatt, der leeren Leinwand und ihren realen Gegenstücken alltäglichen Lebens verläuft: das Bühnengerüst und was es sonst noch alles gibt. Aufgrund der Rahmung sind das Bühnengerüst und seine Umwelt kreiert als das jeweils andere ihrer selbst und das Blatt und die Leinwand sind zu primären Medien avanciert.

Aber die Anführungszeichen sind da, bevor die Sätze artikuliert sind, die zwischen ihnen zu stehen hätten. Wir haben die Klammern, aber das Eingeklammerte fehlt. Das Gerüst der Bühne ist leer. Insofern bleibt es in der Wiederholung des Alltäglichen stecken, in dessen Ausdruckslosigkeit der Beobachter hineinstarrt – wie umgekehrt diese ihn anstarrt. Wie bringt man in das wechselseitige Anstarren eine wie auch immer geartete Artikulation hinein, das ist die Frage. Und die Antwort auf diese Frage lautet paradox genug: Durch Sichtbarmachen des Unsichtbaren und Unsichtbarmachen des Sichtbaren. Das Geschehen auf der Bühne muss die materielle Welt verschwinden lassen und das Unsichtbare als eine imaginäre Welt zur Erscheinung bringen. Die Innenwelt der Bühne hat das Außen ihrer Umwelt in sich selbst einzuziehen und darin zu versammeln. Erst in dieser Doppelrahmung scheidet sich das Kunstwerk von seinen Gegenstücken in der realen Realität ab.

 

“Abgefratzt”
Veronika Wenger 2018
100 x 65 cm, marker, tape, acrylic and pencil on plastic

Der Anfang des Kunstwerks ist eine kontingente Setzung, ein Schnitt, der vom  Zufall dirigiert ist, ganz gleich ob der Vortrag brutal oder zögernd und tastend erfolgt. Das Kunstwerk betritt sein primäres Medium, das Bühnengerüst als ein Einschnitt, als eine „unterscheidbare Form“, als „eine Linie, deren Ziehung zwei Raumteile trennt und damit erzeugt“ (Luhmann) –  als jeweils andere Seite der anderen Seite. Die Arbeit kann sich nun auf beide Seiten und im Hin und Her zwischen ihnen erstrecken. Man markiert auf der einen Seite eine Stelle und muss schauen, was auf der anderen passiert. Im Vor und Zurück, im Vorher und Nachher hat sich ein Kunstraum hergestellt und zugleich hat dieser seine Eigenzeit gewonnen. Möglicherweise muss die gezogene Linie versetzt und an den Rand der einen Seite verschoben werden, um der anderen einen größeren Spielraum zu verschaffen. Was folgt sind Sequenzen von Verschiebungen und Verdichtungen, von Brechungen und Durchstreichungen, ein Arsenal von Linienkombinationen, bis die Arbeit innehält und die Schwerpunkte an andere Stellen verlegt – oder alle Markierungen entweder formenkombinatorisch oder buchstäblich zerfetzt werden, ein anderer Schnitt gemacht wird und ein neues Werk beginnt.

 

“VII”
Veronika Wenger 2017
100 x 65 cm, marker, pencil on plastic

Was haben wir als Beobachter gesehen, wenn wir uns das Kunstgeschehen derart vergegenwärtigen, worein sind wir involviert? Wir haben gesehen, wie sich bei der Herstellung eines dichten Geflechts von Beziehungen die Beobachtung der Eingriffe in das Geflecht auf sich selbst richtet. Wir haben gesehen auf welche Weise sich das primäre Medium des Bühnengerüsts in ein Beobachtungsmedium zweiter Ordnung verwandelt, das die Arbeit an diesem Geflecht und ihre Betrachter von psychischen Dispositionen entlastet und ein Abtasten von Formen freisetzt, die sich selbst zum Inhalt haben. Wir haben gesehen, wo Haltepunkte, Kehrtwendungen und Neigungswinkel entstehen, die sich jedem planerischen Zugriff entziehen. Und wir haben nicht gesehen auf welche Weise ein Problem gelöst wird, sondern wir sahen, wenn es glücklich ausgeht, wie man ein Rätsel installiert.

Kehren wir zu der Linie zurück, welche das weiße Blatt oder die leere Leinwand vertikal in zwei Hälften teilt und die getrennten Seiten in harter Fügung verklammert. Es verbietet sich, die Verlaufsform der Linie zu einem Schema zu verdinglichen und als ein Gleichnis zu lesen, dessen Bedeutung darin besteht, uns aus der alltäglichen Wahrnehmungs- und Meinungswelt in ein Reich idealer Klarheit zu transportieren. Es verbietet sich aber auch der umgekehrte Weg, der sie im Abgrund der Verblendung enden ließe. Vielmehr sind Aufstieg und Abstieg unterscheidungstechnisch auf einer Landkarte der Differenzen festgehalten und in die Verlaufsformen, die Umwege und in das Innehalten eines Zwischen-Seins überführt. Die Lineaturen der Landkarte verkörpern Klarheit und Verblendung gleichermaßen. Sie sind, obgleich vom Territorium alltäglichen Lebens abgetrennt, so weit von diesem nicht entfernt und metaphorisch mit ihm verbunden.

Bernhard Lypp
München 2020

Text erschienen im Katalog:
VERONIKA WENGER | DIE LINIE / THE LINE

 

“VI”
Veronika Wenger 2017
100 x 65 cm, marker, pencil on plastic
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DIE LINIE UND DIE ZEICHNUNG

Plakat: Thomas Rieger

Vortrag von Veronika Wenger an der Hochschule Augsburg Fakultät für Gestaltung

Geschichtlich gesehen, war die Zeichnung lange Zeit kein autonomes Medium. Niemand machte sich viel Gedanken über die Zeichnung, ob die Zeichnung abstrakt oder nicht abstrakt war. Die Zeichnung diente, um etwas darzustellen oder ein Zeichen für etwas zu finden; als Skizze, Studie oder als Vorbereitung einer Malerei.

Für mich heute ist der wichtigste Aspekt der Zeichnung, der Unterschied zwischen der Linie und der Zeichnung selbst. 

Die Linie ermöglicht Bewegung im Raum sichtbar zu machen, etwa Tanz, Schreiben oder Sprechen. Eine Linie kann ein Wort, ein fliegendes Blatt, eine vorübergehende, eine zufällige oder eine bewusste Bewegung darstellen. Die festgehaltene Bewegung zeichnet eine Form auf der Fläche auf: 

Eine Strecke von A nach B.

A––––––––––––––––––B

Ich muss eine Linie ziehen, um eine Strecke sichtbar zu machen. Ich muss eine Linie ziehen, um Bewegung sichtbar zu machen. Schreiben ist hierfür ein gutes Beispiel. Schreiben macht Sprache mithilfe der Linie sichtbar. Schreiben zeigt die Länge einer Bewegung auf; von links nach rechts, von oben nach unten, von rechts nach links. Ist Sprache Bewegung? Immerhin hat Sprechen eine Richtung und eine Dauer, welche durch Schreiben oder Aufzeichnen einer Frequenz linear sichtbar gemacht werden kann.

Veronika Wenger, take I, 2014, 240 x 240 cm, carbon and spray on wall. Photo © Klaus Mauz

Warum zeichne ich? Warum muss ich etwas sichtbar machen? Bestimmt nicht nur aus dem Grund etwas nicht zu vergessen, oder an etwas zu erinnern, da ich auch manchmal Zeichen verwische oder wegradiere, um etwas verschwinden zu lassen, das zu viele Spuren hinterließ.

Die Sprache und das Sprechen, kann ich nur zeitlich begrenzt festhalten, sie ändert sich ständig. Die geschriebene Sprache jedoch bleibt als Zeichen bestehen, das seine Bedeutung für längere Zeit behält. Die geschriebene Sprache bleibt als ein Zeichen in der Vorstellung oder als eine festgehaltene Bewegung bestehen.

Die Zeichnung bildet das Sichtbare ab und macht Vorstellungen, Ideen, Reflexionen und Intuitionen sichtbar. Zeichnung beinhaltet viele formale Unterschiede. Zeichnung kann Dokumentation, Information oder Kunst sein. Sie ist immer Kommunikation.

Wenn ich alle sichtbaren Formen als Innen und Aussen betrachte, entstehen aneinanderhängende Flächen, die schließlich ein Muster bilden. Ich kann mithilfe der Linie alle Abstände und Zwischenräume mit Innen und Aussen verbinden / verknüpfen. Jede Form wird zum Teil einer endlosen Verknüpfung.

Die Zeichnung, Abbild und Bild hingegen widersetzen sich dieser Idee des Musters und versuchen immer das Innen zu sein, mit Behauptungen zu wissen wie die Form zu sein hat. Es entsteht eine festgelegte, bestimmte Form, deren Inhalt die Vorstellung bestimmt.

Die Linie dagegen fügt sich ein, schafft eine Fortsetzung, eine endlose Möglichkeit von Form, Grenze, Bezeichnetem und Unbezeichnetem, Sichtbarem und Unsichtbarem. Die Linie wird hier zum Medium für Wiederholung und Form.

Der Rhythmus, die Bewegung und die Zeit liegen in der Linie selbst. Den Rhythmus, Komposition, Bewegung, Unterscheidung und Entscheidung zu finden, das liegt zwischen Abstraktion und Nicht – Abstraktion. Letztendlich liegt der Unterschied darin, dass, wenn ich einen Tänzer zeichne, die Bewegung eines Tänzers zeichne, ich auf gewisse Weise abstrahiere, da es einen Inhalt gibt, ein Motiv.

Veronika Wenger, draw a distinction, 2018, 160 x 125 cm, marker on plastic

Aber, wenn ich eine Linie zeichne, wird die Unterscheidung nur durch eine Linie gezeigt, der Rhythmus der Linie ist die Zeichnung. Die Zeichnung ist die Linie, die reine Linie: dann ist die Linie eine Linie und keine abstrakte Linie. Es ist eine Linie. Diese Linie ist der Inhalt, das Motiv der Zeichnung. Die Linie wird zur Form, wie in der geschriebenen Sprache. Genauso wie Buchstaben benutzt werden und deren Bedeutung / Sinn gefunden werden muss. Sprechen zum Beispiel ist nicht abstrakt, ein Buchstabe als ein Buchstabe ist nicht abstrakt. Der Laut der Sprache ist ein Teil der Realität, auch der Buchstabe. Nur durch die Bedeutung in der Vorstellung wird der Buchstabe abstrakt.

Veronika Wenger, red line, 2016, 135 x 150 cm, pencil and marker on plastics. Photo © Klaus Mauz

Die Linie auf einer Fläche legt eine Grenze fest. „Drawing a distinction“ zeigt den unbezeichneten und bezeichneten Raum. Die Linie macht das Unbezeichnete sichtbar und wird zur Form. Die Linie ist erst unbezeichnet und wird durch Zeichnung oder Schrift zum Inhalt.

Was ist Abstraktion?

Veronika Wenger, drawing03, pencil, marker on paper, 160 cm x 150 cm, 2015

Die Tänzerin – hier ist die Zeichnung ein Abstrahieren von der Tänzerin, in einer Komposition als Zeichnung und Schrift.

Veronika Wenger, Black Line, marker pencil on wall, Istanbul Art Fair Tüyap 2017
Photo © Rhythm Section

Die Linie, als solche, auf einer Fläche ist keine Abstraktion – sie ist eine Linie. 

Was ist eine Linie?

Veronika Wenger, Ж, 2018, 160 x 125 cm, tape and marker on plastic

Eine Linie auf einer Fläche kann durch Zufall entstehen, kann etwas bezeichnen oder aufzeichnen. Wenn ich herumgehe und Linien, Zeichnungen, Kratzer, Striche (Kompositionen) an der Wand oder auf dem Boden entdecke, die durch Zufall, durch das „wirkliche Leben“, entstanden sind, erscheinen sie mir wie ein Abdruck der Welt.

Unsichtbares sichtbar und Sichtbares sichtbar machen, unter dem Einfluss der Geschichte der Zeichnung ein Gleichgewicht zu finden – bedeutet Zeichnung.

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