Das weiße Blatt und die leere Leinwand sind materielle Gegenstände, die den Dingen und Ereignissen zugehören, aus denen das Insgesamt der Welt besteht. Fassen wir sie jedoch als Gerüste einer Bühne auf, dann haben wir sie aus dem Sammelsurium der Welt aussortiert und nehmen sie als einen Rahmen wahr, mittels dessen das Sein der bloßen Vorhandenheit in Anführungszeichen gesetzt ist. Wir haben eine imaginäre Grenzlinie gezogen, die zwischen dem weißen Blatt, der leeren Leinwand und ihren realen Gegenstücken alltäglichen Lebens verläuft: das Bühnengerüst und was es sonst noch alles gibt. Aufgrund der Rahmung sind das Bühnengerüst und seine Umwelt kreiert als das jeweils andere ihrer selbst und das Blatt und die Leinwand sind zu primären Medien avanciert.
Aber die Anführungszeichen sind da, bevor die Sätze artikuliert sind, die zwischen ihnen zu stehen hätten. Wir haben die Klammern, aber das Eingeklammerte fehlt. Das Gerüst der Bühne ist leer. Insofern bleibt es in der Wiederholung des Alltäglichen stecken, in dessen Ausdruckslosigkeit der Beobachter hineinstarrt – wie umgekehrt diese ihn anstarrt. Wie bringt man in das wechselseitige Anstarren eine wie auch immer geartete Artikulation hinein, das ist die Frage. Und die Antwort auf diese Frage lautet paradox genug: Durch Sichtbarmachen des Unsichtbaren und Unsichtbarmachen des Sichtbaren. Das Geschehen auf der Bühne muss die materielle Welt verschwinden lassen und das Unsichtbare als eine imaginäre Welt zur Erscheinung bringen. Die Innenwelt der Bühne hat das Außen ihrer Umwelt in sich selbst einzuziehen und darin zu versammeln. Erst in dieser Doppelrahmung scheidet sich das Kunstwerk von seinen Gegenstücken in der realen Realität ab.
Der Anfang des Kunstwerks ist eine kontingente Setzung, ein Schnitt, der vom Zufall dirigiert ist, ganz gleich ob der Vortrag brutal oder zögernd und tastend erfolgt. Das Kunstwerk betritt sein primäres Medium, das Bühnengerüst als ein Einschnitt, als eine „unterscheidbare Form“, als „eine Linie, deren Ziehung zwei Raumteile trennt und damit erzeugt“ (Luhmann) – als jeweils andere Seite der anderen Seite. Die Arbeit kann sich nun auf beide Seiten und im Hin und Her zwischen ihnen erstrecken. Man markiert auf der einen Seite eine Stelle und muss schauen, was auf der anderen passiert. Im Vor und Zurück, im Vorher und Nachher hat sich ein Kunstraum hergestellt und zugleich hat dieser seine Eigenzeit gewonnen. Möglicherweise muss die gezogene Linie versetzt und an den Rand der einen Seite verschoben werden, um der anderen einen größeren Spielraum zu verschaffen. Was folgt sind Sequenzen von Verschiebungen und Verdichtungen, von Brechungen und Durchstreichungen, ein Arsenal von Linienkombinationen, bis die Arbeit innehält und die Schwerpunkte an andere Stellen verlegt – oder alle Markierungen entweder formenkombinatorisch oder buchstäblich zerfetzt werden, ein anderer Schnitt gemacht wird und ein neues Werk beginnt.
Was haben wir als Beobachter gesehen, wenn wir uns das Kunstgeschehen derart vergegenwärtigen, worein sind wir involviert? Wir haben gesehen, wie sich bei der Herstellung eines dichten Geflechts von Beziehungen die Beobachtung der Eingriffe in das Geflecht auf sich selbst richtet. Wir haben gesehen auf welche Weise sich das primäre Medium des Bühnengerüsts in ein Beobachtungsmedium zweiter Ordnung verwandelt, das die Arbeit an diesem Geflecht und ihre Betrachter von psychischen Dispositionen entlastet und ein Abtasten von Formen freisetzt, die sich selbst zum Inhalt haben. Wir haben gesehen, wo Haltepunkte, Kehrtwendungen und Neigungswinkel entstehen, die sich jedem planerischen Zugriff entziehen. Und wir haben nicht gesehen auf welche Weise ein Problem gelöst wird, sondern wir sahen, wenn es glücklich ausgeht, wie man ein Rätsel installiert.
Kehren wir zu der Linie zurück, welche das weiße Blatt oder die leere Leinwand vertikal in zwei Hälften teilt und die getrennten Seiten in harter Fügung verklammert. Es verbietet sich, die Verlaufsform der Linie zu einem Schema zu verdinglichen und als ein Gleichnis zu lesen, dessen Bedeutung darin besteht, uns aus der alltäglichen Wahrnehmungs- und Meinungswelt in ein Reich idealer Klarheit zu transportieren. Es verbietet sich aber auch der umgekehrte Weg, der sie im Abgrund der Verblendung enden ließe. Vielmehr sind Aufstieg und Abstieg unterscheidungstechnisch auf einer Landkarte der Differenzen festgehalten und in die Verlaufsformen, die Umwege und in das Innehalten eines Zwischen-Seins überführt. Die Lineaturen der Landkarte verkörpern Klarheit und Verblendung gleichermaßen. Sie sind, obgleich vom Territorium alltäglichen Lebens abgetrennt, so weit von diesem nicht entfernt und metaphorisch mit ihm verbunden.
Bernhard Lypp
München 2020
Text erschienen im Katalog:
VERONIKA WENGER | DIE LINIE / THE LINE