Abb. 1 (Stoffrest, Foto © Rhythm Section)
Die erste die Linie, die mir begegnete, war der Faden. Durch den Faden wurde mir klar, was eine Linie bedeutet: Fadengerade, Fadenziehen. Bei einer Fläche, die aus einzelnen Fäden/Linien besteht, kann durch das Fadenziehen die Größe und Anzahl der Flächen bestimmt werden. Es erscheint eine wunderbare Linie. Die Linie trennt und verbindet gleichzeitig, zwei Flächen stoßen aneinander, es entsteht eine Kante, Naht, Schnitt, ein Format. Abb. 1
Durch das Haute – Couture – Schneiderhandwerk wurde mir bewusst wie Idee, Vorstellung, Zeit, Geschwindigkeit und Materialität die Linie, den Ausdruck, die Form und vor allem den Duktus der Schneiderin, das goldene Händchen sichtbar wird. Das goldene Händchen war die größte Anerkennung meiner Meisterin für das Geschick der Hände.
Die Naht und der Faden war zu Beginn meiner Zeichnungen der Bleistift. Das Nähzeug wird abgelöst vom Zeichen (Schreib)zeug. Abb. 2
Abb. 2 (Zeichen – Nähzeug, Foto © Rhythm Section)
Der Umgang mit dem Bleistift und Papier war meine erste Begegnung mit dem Zeichnen und blieb lange Zeit auch an der Akademie der einzige. Trotz meiner Liebe zum Haute-Couture-Handwerk widmete ich mich in dieser Zeit nur dem Umgang mit Bleistift und Papier. In dieser Zeit kann ich fast sagen, dass ich im Inneren der Zeichnung war, eine Art Ausgeliefertsein an den Bleistift. Abb. 3
Abb. 3 (Aktzeichnung, 50 cm x 35 cm, 1992, Foto © Rhythm Section)
Um von Innen nach Aussen zu gelangen, bediente ich mich verschiedenster Techniken. Die Technik der Lithografie verhalf mir nur durch ihre technischen und handwerklichen Vorgaben eine Distanz zu schaffen, eine Unterbrechung des unmittelbaren Zeichnens. Allein durch die Technik kamen neue Materialität, Farbe, Fläche, Linie und Form hinzu. Allerdings war hier die Linie weiter bestimmend; der Bleistift wurde durch die Lithokreide ersetzt. Abb. 4
Abb. 4 (Lithografie, „o. T.“, 100 cm x 60 cm, 1996, Foto © Rhythm Section)
Ich fing an mit Video, Fotografie, Performance zu arbeiten, setzte mich hartnäckig mit Malerei auseinander und arbeitete mit anderen Künstlern zusammen. Dadurch konnte ich mich auf die Suche machen mit welchem Medium auch immer. Ein Freund, Künstler, sagte mir damals, er sei sehr erleichtert, es käme ihm vor als habe ich endlich geschafft die Eisdecke, unter der ich eingeschlossen war, zu durchbrechen…
Der Film Sommer zeigt sehr gut meinen damaligen Umgang mit den verschiedensten Mitteln, immer eng verbunden mit meinen Zeichnungen. Ohne Zeichnung, kein Film, ohne Film keine Zeichnung, ohne Zeichnung, kein Foto, ohne Foto keine Zeichnung…:
Abb. 5 (Filmstill aus „Sommer“, 45 min, 2007, Foto © Rhythm Section)
Abb. 6 (Filmstill aus „Sommer“, 45 min, 2007, Foto © Rhythm Section,
Filmstill aus „Tag und Nacht“, Loop, 2002, Foto © Rhythm Section)
Hier begegnete mir erstmals der Rhythmus. Durch das permanente Arbeiten mit Serien von Zeichnungen, Film und Fotoserien, die ständige Wiederholung und Verknüpfung mit immer kleinen Veränderungen, führte zu Zyklen, Rückbezügen zu anderen Arbeiten, Rhythmus und Veränderungen von Zusammenhängen, verbunden durch eine Figur, die alle Arbeiten im Inneren durchstreift. Abb. 7,8,9
Abb. 7 („Hedda“, 80 cm x 120 cm, Mischtechnik auf Papier, 2010, Foto © Rhythm Section)
Abb. 8 („Sie“, 20 cm x 15 cm, Aquarell, Spray auf Papier, 2013, Foto © Rhythm Section)
Abb. 9 („Sie“, 50 cm x 70 cm, Acryl, Spray auf Papier, 2012, Foto © Rhythm Section)
Dieser durch das Arbeiten entstandene Rhythmus führte mich mit der Künstlergruppe Rhythm Section zusammen.
Ich kaufte mir Bücher und untersuchte was der Unterschied zwischen Metrum und Rhythmus ist, Rhythmus in der Bildenden Kunst, Film und im Allgemeinen. Forsythe, der mich schon lange interessierte aufgrund seines Arbeitens mit Grammatik, Sprache, Logik und Tanz, wurde zum Anstoß meiner neuen Arbeiten, verknüpft mit dem Charakter von Hedda Gabler, die sich müde getanzt hat. Abb. 10, 11
Abb. 10 (William Forsythe, Programmheft, Bayerisches Staatsballett, 2010, Foto © Rhythm Section)
Abb. 11 (Hedda Gabler, Henrik Ibsen, Reclam, Foto © Rhythm Section)
Hedda Gabler gab mir den Text, ihren Dialog, der mir für eine lange Zeit Buchstaben zur Verfügung stellte, die den Kontext zur Sprache, Beziehung und Umwelt ermöglichte, ohne Bedeutung sein zu wollen, ohne eine Geschichte zu erzählen, als Stellvertreter für Sprache, Buchstaben, Struktur, vereinbarte Ordnung und Kommunikation.
William Forsythe faszinierte mich mit seinen historischen Referenzen, mit Ballett als Struktur und Ballett als verkörpertes Wissen (vgl. Programmbuch zur Premiere Artifact, Spielzeit 2009/10, Bayerisches Staatsballett) und seinem Umgang mit Bewegung, Grammatik und Sprache.
In der Zusammenarbeit mit den Künstlern von Rhythm Section lernte ich die verschiedensten Umgangsweisen mit Rhythmus kennen und nach langen Um- und Seitenwegen kam ich zur Zeichnung zurück, zur Zeichnung, die Wahrnehmung und Darstellung ist; zur Linie, die Inhalt, Form, Komposition, Rhythmus und Farbe ist.
Hedda Gabler gab mir den Text, Forsythe den Tanz und Rhythm Section den Rhythmus. Abb. 12
Abb. 12 („Take II“, 240 cm x 240 cm, Kohle, Spray auf Wand, 2014, Foto © Klaus Mauz)
In der Arbeit drawing 02 versucht Wenger mit Schrift, Figur und Linie eine kompositorische Bildaussage zu transportieren. Diese drei Komponenten schaffen ihrer Meinung nach ein Gleichgewicht zwischen Auflösung und Form. (Zitat aus dem Text Die innere Notwendigkeit von Karin Wimmer, Rhythm & Method Volume II, 2015) Abb. 13
Abb. 13 („Zeichnung02“, 160 cm x 150 cm, Bleistift, Marker auf Papier, 2015, Foto © Klaus Mauz)
Help alive inside, ist ein Verweis auf die Existenz von Zombies. Durch meine Beschäftigung mit Film und Filmanalyse stieß ich auf die Entwicklung und den Kult dieser Spezies. Help alive inside fungiert hier als eine Art Kodex. „Help alive inside“ bringt eine psychische und psychologische Ebene zur Sprache, die meine Zeichnungen dem Betrachter vermitteln. Eine Künstlerin bezeichnete meine Zeichnungen als psychische Abstraktion. Dies bezieht sich wohl auf meine starke, manchmal impulsive Ausdrucksform, die sich über die rationale Vorgehensweise legt. Dadurch entsteht oftmals die Konstruktion und Dekonstruktion. Allerdings immer mit Rücksicht auf das kompositorische Gleichgewicht, auf die Ordnung des Sachverhalts, auf Format und Aussage. Ich denke dies äußert sich in der Erscheinungsform der Linie und dem Umgang mit Farbe, da ich versuche jegliche Aussage in die Linie, ihre Bewegung und Farbe zu stecken und so das Äußere in das Innere der Linie zu verpacken. Abb. 14
Abb. 14 („Drawing03“, 160 cm x 150 cm, Bleistift, Marker auf Papier, 2015, Foto © Klaus Mauz)
Ich dagegen denke, dass mehr die Phänomenologie meinem Interesse entspricht, das Festhalten von Erscheinung, Beobachtung, Wahrnehmung. Ich mache mit meinen Zeichnungen mein Verständnis zur Welt sichtbar. Eine Möglichkeit zu finden, mit der Zeichnung eine Balance, einen Ausschnitt zu finden, der letztendlich das Ganze dokumentiert, eine Taxonomie, eine Chronologie, Chorologie, Morpholgie.
Manchmal brauche ich eine Figur, anhand derer ich das Verhältnis zur Welt untersuche, die eine Referenz hat, aber die durch Unterordnung beim Zeichnen immer wieder zerstört, zunichte gemacht wird.
Es handelt sich um eine narrative Form, die mir Anlass zum Zeichnen gibt. Der Anlass, der dank Hedda Gabler und Forsythes Tänzer mir auf unverbindliche Weise eine Verknüpfung mit einer Figur gab, gibt eine Sicherheit, die später durch Konstruktion und Dekonstruktion, durch Deformation und den Prozess des Zeichnens ganz oder zum Teil vernichtet wird. Es entsteht daraus eine freie Linie, die ihre Stärke aus dem Anlass schöpft.
Während der Arbeit wird der narrative Teil vernichtet bzw von der Linie verschluckt. Abb. 15
Help alive inside – die Rettung aus dem Inneren der Zeichnung. Abb. 16
Veronika Wenger
München, Januar 2017
Abb. 15 („Red line“, 135 cm x 150 cm, Bleistift, Marker auf Plastik, 2016, Foto © Klaus Mauz)
Abb.16 („Help alive inside“, 75 cm x 60 cm, Acryl, Spray auf Leinwand, 2011, Foto © Klaus Mauz)